Vor 41 Jahren stieg Samuel Hunziker bei Terra Vecchia ein. Später gründete er in Brienzwiler einen eigenen Ableger der Stiftung, die Ex-Süchtige betreut. Über 600 Menschen begleitete er in dieser Zeit. Ein Rückblick:
In seinem Büro hängen Kalender an der Wand. Mit grossen Fotos. Auf einem sitzen vier Älpler zwischen vier Kühen und blicken in die Kamera. Auf einem anderen sitzt eine Frau beim Melken, darunter ein Spruch: «Drei Monate Alp haben mir mehr Selbstvertrauen gegeben als jahrelanger Heroinkonsum.» Die Sonne fällt schräg durchs Fenster und wärmt den Raum, ein Nachmittag im März.
Viel Zeit hat Samuel Hunziker drinnen in seinem Büro verbracht, mehr als ihm lieb ist, hat er in einen Bildschirm geschaut. Aber einer musste den Job machen und der Papierkram ist auch in Brienzwiler nicht weniger geworden über die Jahre. Obwohl: angefangen hatte alles ganz anders.
Es waren die 80er-Jahre, in Zürich am Platzspitz hatte sich eine offene Drogenszene gebildet, es gab viele Menschen, die Drogen nahmen und wenige Institutionen, die ihnen halfen, davon wegzukommen. Im Schlüssel Detligen, dem ersten Ableger von Terra Vecchia im Kanton Bern, war Samuel Hunziker Freiwilliger. War Tellerwäscher, war Pizzaiolo und schmiss zusammen mit ehemaligen Abhängigen die Dorfbeiz, die jeweils am Freitag offen war. 1983, Terra Vecchia hatte eben den Standort Melchenbühl ausserhalb von Bern eröffnet, wurde er eingestellt.
Später verbrachte Hunziker zwei Sommer auf einer Alp. Als er hörte, man suche jemanden für die Alp Oltscheren, die schräg oberhalb des Brienzersees liegt, spannte er mit einem Freund zusammen und lernte eine Bauernfamilie kennen, Wirzes, Otti und Rosmarie. Samuel Hunziker spürte: hier könnte man was Eigenes aufbauen. Nach dem ersten Alpsommer boten Otti und Rosmarie ihm eine Zusammenarbeit an, 1988 nahmen sie die ersten Klient:innen auf.
Heute bietet Terra Vecchia Brienzwiler in zwei Wohngemeinschaften 18 stationäre Behandlungsplätze an und zehn nachstationäre Plätze.
Jetzt, wenn er davon spricht, im Büro in Brienzwiler im ersten Stock, huschen seine Augen den Kalendern an den Wänden entlang, als kletterten sie im Fels und suchten nach dem nächsten Griff. Es ist der Blick von einem, der das Ruhen nie gesucht hat. Der Tür an Tür wohnte mit den Klient:innen. Einer, der als Ausgleich zum Alltag auf der Alp eine Bergtour machte.
Nun soll er pensioniert werden.
Für manche ist das schwer vorstellbar, Terra Vecchia Brienzwiler ohne ihren Gründer. Eine Arbeitskollegin erzählte ihm, sie habe Durchfall, jetzt, wo der Abschied naht. Sämi nennen sie ihn hier, obwohl er der Chef ist, überhaupt sprechen sich alle mit Vornamen an, die, die ihr Leben im Griff haben und die, die daran arbeiten.
Martin kommt ins Büro, einer seiner Nachfolger, und erzählt von einem Klienten, der früher stationär in Brienzwiler in Behandlung war und nun in einer Wohnung lebt, die Terra Vecchia für ihn gemietet hat. Es geht darum, wie der Klient sich den Konsum finanziert und um Reklamationen von anderen Mietern.
Und man fragt sich, ob das Sämi nie zu viel wurde, all die Probleme, die schwierigen Schicksale, Tag für Tag, oft auch am Wochenende.
Die Anfänge
«Wenn ich zurückdenke an meine Kindheit, kommen mir Bilder meines Vaters in den Sinn. Ich bin zuhause, er kommt von der Arbeit, wir essen und irgendwann muss ich ins Bett. Und neben meinem Bett sitzt der Vater an seinem Arbeitsplatz und arbeitet weiter, während ich langsam wegdämmere. Ich glaube, das ist es, was mich geprägt hat. Was mich angetrieben hat, ein Unternehmen zu gründen. Vater hatte auch einen Betrieb geleitet.»
Wieder huschen die Augen den Wänden entlang, vom Kalenderblatt zum Foto eines Schneemanns, den er mal baute, zusammen mit Klient:innen, vor fünf Jahren vielleicht, zweieinhalb Meter gross.
«Wahrscheinlich hängt es mit meiner Familie zusammen. Meine Eltern haben mir beigebracht, dass man Sorge trägt zueinander. Wenn früher ein Mitarbeiter meines Vaters ein Haus bauen wollte, gab er ihnen einen kleinen Kredit über die Firma, solche Sachen. Und dann in den 80ern, als ich bereits bei Terra Vecchia angefangen hatte, waren da plötzlich diese Bilder des Platzspitzs. Des Elends und der Drogen. Das hat mich fasziniert – wie man sich als Mensch so zugrunde richten kann. Ich dachte, das kann doch nicht sein. Es muss eine Lösung geben dafür. Die Bilder in der Zeitung sollten abschrecken –aber es ging alles genau gleich weiter.»
Von der Spritze auf die Spitze also?
So hiess ein Projekt, das er mit Terra Vecchia Brienzwiler 2008 lancierte. Innert 10 Tagen bestiegen ehemalige Drogenabhängige das Finsteraarhorn, den Dom und den Mont Blanc, den höchsten Gipfel Europas. «Zehn Ex-Junkies auf Viertausender» titelte 20 Minuten und zitierte Sämi mit den Worten, es müsse in Zusammenhang mit Drogen wieder vermehrt von Abstinenz gesprochen werden.
«In einer Zeit, in der Suchtfachleute behaupten, Drogensucht sei nicht heilbar und die Abgabe von Ersatzstoffen an Süchtige die einzige Methode, das Drogenelend abzuschwächen, erhält diese Expedition sozialpolitische Brisanz», schrieb Sämi in der Pressemitteilung.
«Ich bin mit Sport aufgewachsen, war viel draussen, im Wald – Lagerfeuer und schlafen unter freiem Himmel. Ich habe es geliebt. Später habe ich die Berge entdeckt und gemerkt, welchen Schatz, welches Potential die Natur bietet. Was sie mit dem Körper macht. Und was mit dem Geist. Die Gefühle auf einem Gipfel, Wind, Wetter, ausgesetzt sein, das war dermassen spannend und erfüllend. Später, als es um therapeutische Inhalte ging, war mir klar, dass ich das als Methode nutzen will. Gemeinsam unterwegs sein, einander anders begegnen als in irgendeinem Büroraum, das war mein Ding. Und es funktionierte. Es entstanden andere Arten von Beziehung und von Vertrauen. Deshalb haben wir die Erlebnispädagogik gepflegt und als Pfeiler im Behandlungskonzept verankert.»
«Man habe vieles ausprobiert damals in den Anfängen», sagt Sämi. «Die Nachfrage nach Behandlungsplätzen mit abstinenter Ausrichtung war enorm gross zu der Zeit.» Es war bevor Methadon & Co. halfen, den Entzug zu schaffen und Klient:innen darüber hinaus stabilisierten.
«Die Institutionen schossen wie Pilze aus dem Boden und natürlich gab es fragwürdige Angebote. Die ganze Suchthilfe war kaum reguliert. Es war eine Art Wildwuchs. Je länger je mehr sind dann Vorgaben hinzugekommen, Auflagen. Heute muss man alles und jeden dokumentieren. Man muss Konzepte vorlegen, rechtfertigen und Veränderungen protokollieren. Bloss ist das enorm schwierig – wie soll man die Entwicklung eines Menschen auf eine Grafik runterbrechen? »